"Frontalangriff auf Grundrecht": Digitalreform des Gesundheitswesens kommt voran

    • Gesetze durchleuchtet

    • mad.de
    • 1221 Aufrufe 1 Antwort

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • "Frontalangriff auf Grundrecht": Digitalreform des Gesundheitswesens kommt voran

      Der Gesundheitsausschuss des Bundestags hat den Entwurf für ein Digitale-Versorgung-Gesetz befürwortet, doch die Kritik reißt nicht ab.

      Die von der Bundesregierung vorangetriebene Digitalreform für das Gesundheitswesen kommt voran. Mit dem Gesundheitsausschuss des Bundestags hat am Mittwoch das federführende parlamentarische Gremium den Weg freigemacht für eine Plenarentscheidung am Donnerstag. Zuletzt hatten vor allem Bürgerrechtler und Datenschützer gegen das geplante "Digitale-Versorgung-Gesetz" (DVG) protestiert.

      "Im Schweinsgalopp" durch den Bundestag
      Die schwarz-rote Koalition brachte im Ausschuss zwar noch mehrere Änderungsanträge durch. So sollen Patientendaten, die von den Krankenkassen zu Forschungszwecken an den Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übermittelt werden müssen, anders als ursprünglich geplant von Anfang an pseudonymisiert werden. Gegnern des Vorhabens reicht diese Korrektur aber nicht aus.

      Was Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) "gerade im Schweinsgalopp und von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt durch den Bundestag bringen will, ist ein Frontalangriff auf bundesdeutsches Grundrecht", beklagt Silke Lüder, Vizevorsitzende der Freien Ärzteschaft. Mit dem Entwurf wolle Spahn den Weg frei machen "für die größte Sammlung von Patientendaten in Deutschland". Das Einverständnis der Bürger habe er dafür aber nicht vorgesehen. Die Initiative breche damit das informationelle Selbstbestimmungsrecht.

      Daten von 73 Millionen Versicherten
      Dem Entwurf zufolge sollten sensible Informationen wie "Diagnosen, Behandlungen, Krankschreibungen, Alter, Geschlecht und Wohnort" der 73 Millionen gesetzlich Versicherten "ungefragt, ohne Widerspruchsmöglichkeit und Löschfristen für die Forschung verwendet werden können", moniert Lüder. Das verstoße auch gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Informationen über Privatversicherte sollen nicht erfasst werden.

      Es sei zwar geplant, Patientendaten mit einem Pseudonym zu versehen, räumt die Freie Ärzteschaft ein. Prinzipiell blieben aber auch damit individuelle Personen rückverfolgbar. So entstehe "erstmals eine zentrale Sammelstelle für Gesundheitsdaten in staatlicher Hand und mit einer langen Liste von Nutzungsberechtigten. Der Überwachung und dem Missbrauch werden damit Tür und Tor geöffnet." Ähnlich hatten sich zuvor die Vereine Digitale Gesellschaft sowie Patientenrechte und Datenschutz geäußert.

      Auch das Vorhaben, neue digitale Angebote wie Gesundheits-Apps auf Rezept verfügbar zu machen, lehnt die Freie Ärzteschaft ab. "Dafür werden der ohnehin unterfinanzierten realen Behandlung von Patienten Millionen Euro Versichertengelder entzogen – für etwas, dessen Nutzen noch nicht einmal nachgewiesen sein muss", rügt Lüder. Ein Jahr lang hätten die Hersteller Zeit, positive Effekte ihrer Anwendungen nachträglich nachzuweisen. So lange wird eine App "im Zweifelsfall ungeprüft auf die Bevölkerung losgelassen".

      Idee gut, aber...
      Das SPD-nahe Netzwerk D64 rief die Abgeordneten auf, die Reform "zur erneuten Behandlung in die Ausschussberatung zurückzusenden". Die Grundidee, der medizinischen Forschung mehr Daten zur Verfügung zu stellen, sei zwar gut. Doch im Detail entstehe "eine riesige zentrale Datensammlung" ohne Widerspruchsmöglichkeit. Ferner sei vorgesehen, entscheidende Details nicht im Gesetz selbst, sondern in einer künftigen Verordnung des Gesundheitsministers zu regeln.

      Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) von Bund und Ländern begrüßte das geplante Forschungsdatenzentrum dagegen. Die gesundheitlichen Versorgungsdaten böten der Wissenschaft ein enormes Analysepotenzial. Zugleich sichere die wissenschaftliche Nutzung die Qualität der Daten und verspreche "gesellschaftsrelevante Innovationen und Verbesserungen in der Versorgung". Der direkte und frühzeitige Informationstransfer durch den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen an die vorgesehene "Vertrauensstelle" stelle "einen wichtigen ersten Schritt für eine schnellere Datenverfügbarkeit" dar.

      Grüner Gegenantrag
      Die Grünen haben einen Gegenantrag in den Bundestag eingebracht, um der Digitalisierung im Gesundheitswesen "eine Richtung" zu geben und sie im Interesse der Nutzer voranzutreiben. Demnach soll etwa ein gemeinnütziges Online-Verzeichnis für mobile digitale Gesundheitsanwendungen mit staatlichen Mitteln errichtet werden. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht sei "als Grundlage für Akzeptanz und Vertrauen in die digitale Transformation" zu sehen.

      Die "Verbesserung der Forschung" dürfe nicht zulasten des Datenschutzes der Patienten gehen, sagte der grüne Fraktionsvize Konstantin von Notz gegenüber heise online. Dass Regelungen zu Löschfristen und Widerspruchsmöglichkeiten erst nachträglich in einer Verordnung geregelt werden sollen, sei "schlicht nicht hinnehmbar". Auch die SPD-Netzpolitikerin Saskia Esken will nicht für den Entwurf stimmen: Die Änderungen in letzter Minute würden "das wenig beteiligende Verfahren so wenig heilen wie die berechtigten Datenschutz-Bedenken".

      Quelle: "Frontalangriff auf Grundrecht": Digitalreform des Gesundheitswesens kommt voran | heise online
    • Schutz von Patientendaten: Informatiker befürworten Verfassungsklage

      Die Gesellschaft für Informatik befürwortet eine Verfassungsbeschwerde gegen das Digitale-Versorgung-Gesetz, das eine Analyse von Patienteninfos zulässt.

      Den Ansatz von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), bei der Digitalisierung des Gesundheitssektors Bedenken hintanzustellen, will die Gesellschaft für Informatik (GI) nicht mittragen. "Im Zweifel muss zuerst für den Schutz der Patientendaten gesorgt werden, bevor neue Prozesse im Gesundheitswesen digitalisiert werden", betont GI-Präsident Hannes Federrath. Bei allen einschlägigen Gesetzen müssten "strenge Vorgaben für die IT-Sicherheit" gelten.

      Schwere Grundrechtsbeeinträchtigungen
      Der Verein begrüßt daher die Verfassungsbeschwerde (Az. 1 BvR 2796/20) gegen das 2019 vom Bundestag beschlossene Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), die die Vorsitzende der Interessengemeinschaft Medizin (IG Med), Ilka Enger, und eine medizinische Fachangestellte Ende vorigen Jahres gemeinsam mit dem Anwalt Carlos Gebauer in Karlsruhe eingereicht haben. Das "Spahn-Gesetz" verletzt laut den Klägern das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Patienten, deren medizinische Daten ohne Einwilligung an ein zentrales Forschungszentrum weitergeleitet und dort für Big-Data-Analysen zur Verfügung gestellt würden.

      Die von ärztlicher Seite vorangetriebene Beschwerde gegen das DVG biete "nun die Gelegenheit, zunächst den aktuellen Zustand der IT-Sicherheit genauer zu ermitteln, bevor weitere Schritte der Digitalisierung des Gesundheitswesens unternommen werden", erklärte Martin Weigele vom Präsidiumsarbeitskreis Datenschutz und -sicherheit der GI. Würden Ärzte auf Basis des Gesetzes gezwungen, mit teilweise unsicheren IT-Systemen des Gesundheitswesens digitalisierte Patientendaten zu übermitteln, drohten schwere, nicht mehr rückgängig zu machende Grundrechtsbeeinträchtigungen für die Betroffenen.

      "Teledoktor und Totalvernetzung"
      Einen Eilantrag gegen die Auswertung der Krankenversicherungsdaten auf Grundlage des Versorgungsgesetzes hatte das Bundesverfassungsgericht im März "bei offenen Erfolgsaussichten" in einem späteren Verfahren abgelehnt. In dem Beschluss stellten die Karlsruher Richter aber fest, dass "vor allem in Anbetracht des teils sensiblen und in hohem Maße persönlichkeitsrelevanten Charakters der genutzten Daten und der dabei breitflächigen Erhebung ein erheblicher Grundrechtseingriff" vorliege. Verstärkt werde dieser Effekt durch die "beträchtliche Menge" an Informationen, die ausgewertet und anderweitig weiterverarbeitet werden dürften. In der Zusammenschau könne sich dabei ein "intensiver Persönlichkeitsbezug" entfalten.

      Silke Lüder von der Freien Ärzteschaft moniert, dass die Fahrt im Gesundheitswesen mit dem DVG und dem weiteren "Gesetzestsunami" von Spahn "rasant in Richtung Plattform-Medizin" gehe. Der Minister treibe umfassende zentrale Datensammlungen, den "Teledoktor und Totalvernetzung" voran. Ein großer Teil der Bevölkerung werde aber durch eine Medizin ausgegrenzt, in der Rezepte, Medikationspläne, Patientenakten und Gesundheitsanwendungen nur noch über Apps auf aktuellen Mobilgeräten liefen. Die als "Selbstverwaltung" konzipierte Gematik werde mittlerweile vom Gesundheitsministerium beherrscht. Herauskomme eine "digitale Ohnmacht, die von Algorithmen gesteuert wird".

      Quelle: Schutz von Patientendaten: Informatiker befürworten Verfassungsklage | heise online