Lukas Reise (Teil 1)
Der verlorene Schlüssel
Luka ist, wenn man seine Vergangenheit außer acht lässt, ein einfacher Mensch. Das Wort „gewöhnlich“ passt zu ihm wie die Faust aufs Auge. Er trägt meist schlichte Kleider, hat ein schlichtes Gemüt und führt ein, zumindest momentan und nach seiner Definition, schlichtes Leben. Nichts an ihm ist von besonderem Interesse, würde er nicht irgendwo im nirgendwo leben. Irgendwo, kilometerweit entfernt vom nächsten Nachbarn. Irgendwo, meilenweit entfernt von öffentlichen Sanitäranlagen, Krankenhäusern, Diskotheken, Telefonen oder Supermärkten. Irgendwo mitten im Wald in einem einfachen Einfamilienhaus. Das Haus ist ein simpler Flachbau. Solide Backsteinziegel halten ein Ziegeldach und 2 Fenster flankieren eine schwere Eichentür. Ein kleiner Weg führt von der Eingangstür des Hauses zu dem Torgatter eines stabilen Maschendrahtzaunes mit Stacheldraht an der Spitze. Ein Zaun welchen man eher in einem Hochsicherheitsgefängnis als mitten im Wald vermuten würde. Selbst mit der Erklärung, dass er Rehe und sonstige Rinde-von-Bäumen-fressende-Tiere fern halten soll wirkt er etwas zu brutal und mächtig deplaziert. Luka selbst mag den Zaun. Er hat ihn zwar nicht aufgestellt, doch er würde auch nicht im Traum daran denken ihn abzureißen. Er gibt ihm Sicherheit, wie ein Holzknüppel uns in den dunklen Gassen einer Stadt Sicherheit gibt. Dieses Gefühl zeugt aber keineswegs von einer beginnenden Paranoia, sondern ist durchaus Begründet und berechtigt. Er trennt nämlich den Briefkasten von dem Restlichen Grundstück, und dieser ist der die eigentliche Ursache dafür, das Luka glaubt sich schützen zu müssen. Früher einmal war es ein alter, offener Briefkasten, der sich wegen der Position des Hauses nur sehr selten mit Post füllte. Doch seit zwei Wochen füllte er sich täglich über Nacht. Luka hat ein ganzes Sammelsurium an seltsamen Dingen die er in seinem Briefkasten gefunden hat. Dinge die nicht in den Briefkasten gehörten. Dinge die er nicht in den Briefkasten gelegt hatte. Mal waren es ein paar Beeren, dann wieder eine kleine Blume. Ab und zu ein paar frische Blätter oder ein Stein. Größtenteils sind es Dinge die man im Wald finden kann, und meistens schafft er es die Dinge in seinem Briefkasten dem Zufall oder Eichhörnchen oder Vögeln zuzuschieben, aber manchmal, manchmal waren in dem Briefkasten Dinge für deren Erscheinen es keine logische Erklärung gab, so sehr er sich auch bemühte eine zu finden. Ein alter, von irgendetwas angekauter Kinderschuh, ein zerfledderter Schal an den vermoderte Blätter hingen, eine Mütze die mit Schlamm bespritzt war, ein Stück von einem Autoreifen, der Kopf einer Barbiepuppe. Und diese Dinge beunruhigten Luka. Sie beunruhigten ihn zutiefst. So entschloss er sich eines schönen Tages dazu den alten offenen Briefkasten abzureißen und einen neuen aus Aluminium an dessen Stelle zu setzen. Gesagt, getan, und so steht seit zwei Tagen ein Neuer Briefkasten vor seinem Zaun. Seitdem fand er nur noch frische Blätter oder Haselnüsse oder Blaubeeren in seinem Briefkasten; doch diese waren wie man sich vorstellen kann nicht halb so bedrohlich wie ein angeknabberter Kinderschuh. Und überhaupt könnten die Beeren ja die Eichhörnchen gebracht haben. Die machen so was sicher öfters. Selbst wenn man ihm mal wieder etwas in dieser Größe in den Briefkasten stecken wollte würde es nicht durch den engen Schlitz passen. Also ein klarer Sieg nach Punkten für Luka. Doch lassen wir nun für eine Weile den Briefkasten ersteinma Briefkasten sein und widmen uns der Gestalt die gerade die kleine Schotterstraße die in die Stadt führt entlang geht. Luka. Er hat einen großen Rucksack geschultert aus dem eine Stange Lauch herausragt und links und rechts in den Händen eine Jutetasche aus der die verschiedensten Lebensmittel ragen. Die hochstehende Sonne hat ihm bereits den Schweiß auf die Stirn getrieben und er fragt sich zum wiederholten male warum zum Teufel er eigentlich nie den Führerschein gemacht, und sich ein kleines Auto gekauft hat. Er steht momentan mit seinen 26 Jahren in der Blüte seines Lebens und noch stellten die zwölf Kilometer bis zu dem kleinen Krämerladen kein Problem dar, aber in zwanzig, dreißig Jahren könnte das Ganze schon anders aussehen. Er schlendert zu seinem Briefkasten, stellt seine Tasche ab, öffnet ihn und betrachtet grummelnd die drei Eicheln die in ihm Liegen. Rein aus Gewohnheit steckt er sie ein. Bis jetzt hat er immer alles was im Briefkasten war mit in sein Haus genommen, einfach aus dem Grund, das es eine Alte Gewohnheit der Menschen ist, alles aus dem Briefkasten mitzunehmen was sich in ihm befindet. Seien es nun drei Eicheln oder ein Werbeprospekt vom Grillhendl Seppl. Jedenfalls, wie gesagt, die drei Eicheln wandern in die Hosentasche, Luka fasst in die andere Hosentasche um seinen Schlüssel herauszuziehen, und eine Augenbraue wandert nach oben. Ein leiser Seufzer fährt ihm über die Lippen, die Hand kommt ohne Schlüssel wieder aus der Tasche, und er beginnt wie Millionen Menschen es täglich machen mit der Suche nach seinem Schlüssel. Zwanzig Minuten später liegt der gesamte Einkauf auf dem Boden, Luka steht fluchend daneben und kontrolliert zum hundertsten Mal seine Taschen. Nichts. Der Schlüsselbund bleibt verschwunden. Weitere zwei Stunden später steht Luka wieder in dem kleinen staubigen Krämerladen an einem alten Telefon und ruft den Schlüsseldienst. Nach viermaligem Läuten meldet sich eine säuselnde Frauenstimme:
„Magna Schlüsseldienst, guten Tag.“
„Guten Tag. Ich habe meinen Schlüssel verloren.“
„Und?“
„Und ich bin ausgesperrt.“
„Und?“
„Und ich würde gerne wieder in mein Haus zurück.“
„Und?“
„Und deswegen bräuchte ich jemanden der mir die Tür öffnet.“
„Aha. Dürfte ich die Adresse erfahren?“
Luka nennt die Adresse.
„Gut. Es wird etwa eine Stunde dauern bis wir bei ihnen angekommen sind. Am besten sie warten einfach in dem Laden, unser Fahrer kennt ihn. Sollen wir ihnen einen Zweitschlüssel anfertigen lassen?“
„Nein… ich… ich hätte bitte gerne das sie alle Schlösser im Haus austauschen.“
Ein Lachen ertönt am anderen Ende der Leitung und eine leichte Röte steigt Luka ins Gesicht.
„Das ist mein Ernst.“ Versucht er mit ernster Stimme zu sagen, was auch fast funktioniert. Er hasst es ausgelacht zu werden.
„Aber Sir, es wäre sehr viel kostspieliger alle Schlösser auszutauschen und in ihrer Gegend liegt die Kriminalitätsrate bei Null Komma Fünf Prozent pro Jahr. Der Letzte Einbruch liegt Jahrzehnte zurück, und selbst wenn jemand ihren Schlüssel finden würde wüsste er nicht zu welchem Haus er gehört.“
In die Briefkasten dieser Häuser werden allerdings auch keine Sonderbaren Dinge gelegt, denkt Luka und antwortet: „Trotzdem. Ich möchte das alle Schlösser ausgewechselt werden.“
„Natürlich Sir.“
Wiederum zwei Stunden später sitzt Luka auf dem Beifahrersitz eines Alten Ford der über die Schotterstraße in Richtung seines Hauses holpert. Er fragt sich ob er übertrieben handelt; nur weil jemand ihm ab und zu kuriose Dinge in den Briefkasten legt, nein, gelegt hat (Eicheln sind nicht kurios; Eicheln sind Eicheln; vielleicht von Eichhörnchen die sich auf den Winter vorbereiten… Mitten im Frühling.), heißt das noch lange nicht das Eichhörnchen neben Kinderschuhen und Mützen auch einen Schlüssel auflesen, damit das Gatter öffnen, durch den Garten huschen, lautlos eine sonst immer knarrende Eichentür öffnen und ihm schließlich im Schlaf böse Sachen antun. Aber sicher ist sicher, und so lässt Luka tatsächlich noch an diesem Abend alle Schlösser wechseln und sich neue Schlüssel anfertigen. Nachdem der Schlosser bezahlt und verabschiedet ist, drei Eicheln in den Müll, der Einkauf in den Kühlschrank und er in sein Schlafzimmer gewandert ist, gönnt er sich ein kleines Dosenbier zur Entspannung. Zum Schlafzimmer gehört eines der zwei Fenster welche die Haustüre flankieren. Inzwischen ist es Nacht geworden, die Sterne malen ein Atemberaubendes Bild auf den Himmel. Ein Bild von solch einer Schönheit das nur an wenigen Tagen im Jahr entsteht und nur an Orten an denen sich kilometerweit keine größeren Lichtquellen wie Städte befinden. Nun ja... zugegeben, es ist vielleicht nicht so großartig wie jenes in der Serengetiwüste aber dennoch, für Mitteleuropa beeindruckend.
Ein paar hundert Meter den Schotterweg entlang Richtung Stadt kümmert sich niemand um den Sternenhimmel. Vielmehr um jenen kleinen Stern der gut versteckt unter einem Grasbusch, nicht fern von der Straße liegt. Der Schlüssel von Luka, scheint durch günstiges Einfallen des Mondlichtes mit den Sternen um die Wette zu funkeln. Der Betrachter des Schlüssels ist begeistert von seiner Schönheit. Er klirrt kurz als er hochgehoben wird, (welch wunderbares Geräusch) wird behutsam in behaarte Hände gebettet als wäre er ein unglaublich kostbares Gut, und zu seinem früheren Besitzer zurückgetragen. Der Intellekt dieses Wesens ist nicht hoch genug um zu wissen, dass er Luka gehört, aber er empfindet es trotzdem als passendes Geschenk. Eindeutig besser als drei Eicheln. Wie herrlich es doch glitzert und klimpert.
Neues im Briefkasten
Am nächsten Morgen wird Luka durch das schrille Geräusch des Weckers dem Schlaf entrissen. Tapsend und mit geschlossenen Augen sucht seine Hand den Weg zum „Aus-Knopf des störenden Dinges, welcher nach mehrmaligem zaghaften tasten gefunden wird. Seufzend öffnet er die Augen und setzt sich auf. Er blickt aus dem Fenster und starrt den Aluminiumbriefkasten an, dessen dicke Haltestange so schief in der Erde steckt als wäre ein Laster dagegen gefahren. „Schief“ kommentiert Luka es, gähnt und steht auf. Vorsichtig und vom Schlaf noch immer halb blind sucht er seinen Weg ins Badezimmer. Er dreht den Wasserhahn auf und fährt sich durch die braune Stoppelglatze, ehe er seinen Drei-Tage-Bart inspiziert. „Schief“ sagt er noch einmal und hält seine Hände unter das kalte klare Wasser, schöpft es mit beiden Händen und wirft es sich ins Gesicht. Zähne putzen, Rasieren, Anziehen, Frühstück machen. Als der Toast aus dem Toaster springt und Luka gerade demotiviert in den Kühlschrank blickt, tritt erstaunen in sein Gesicht. Er schließt den Kühlschrank, dreht sich um, tapst zurück ins Schlafzimmer und blickt aus dem Fenster. Obwohl es vielleicht erwartet wurde kommt diesmal kein „Schief“ über seine Lippen, sondern ein lautes, erstauntes „Fuck!“. Er tritt einen Schritt näher an das Fenster heran und kneift die Augen zusammen „Das gibt’s doch nicht!“ Schnell dreht er sich um und saust zur Eingangstür. Dort angekommen schnappt er sich einen robusten Regenschirm, ehe er hinaus in den strahlend schönen Tag tritt, wobei wir wieder bei der „ein-Knüppel-in-der-Hand-gibt-Sicherheit-selbst-wenn-es-ein-Regenschirm-ist“-Theorie wären. Nach ein paar duzend Schritten fischt er den neuen Schlüsselbund aus der Tasche, sucht länger als sonst den passenden Schlüssel und flucht dabei beherzt vor sich hin. Als das Gatter endlich aufgeschlossen ist und er vor dem Briefkasten steht sieht er das ganze Werk der Zerstörung. Der Briefkasten scheint seinem Angreifer verbittert und tapfer Widerstand geleistet zu haben. Er hat einige Dellen, teilweise ist er aufgeschnitten als wäre ein Messer in ihn gestochen worden, und der Briefschlitz ist auseinandergebogen. Ein beträchtliches Stück Zerstörung wenn man bedenkt, dass die Aluminiumplatten gut zwei Zentimeter dick sind. Fassungslos fasst sich Luka ans Kinn, deutet mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf den Briefkasten. Vielleicht hatte der LKW ja Zierdolche vorne drauf. Oder es war ein Bär. Ja genau. Was, wenn die Eichhörnchen die Eicheln wiederholen wollten und darin gestorben sind, und der frische Verwesungsgeruch der in den wenigen Stunden als er das letzte mal in ihm nachsah hat einen von den schwarzen Mistviechern angelockt. Normalerweise stehen Bären ja nicht auf Aas, aber vielleicht war das ein außergewöhnlicher Bär. Es gibt hier anscheinend ja auch außergewöhnliche Eichhörnchen. Die Eichhörnchen mussten ja noch nicht mal tot sein. Vielleicht haben sie so laut gefiept oder geschnattert oder was auch immer Eichhörnchen für Geräusche von sich geben, und den Bär so akustisch zu einem kleinen Mittagessen geführt. Fressen Bären überhaupt Eichhörnchen? Klar fressen Bären Eichhörnchen. Bären sind Allesfresser. Wo war noch mal die Garantie für den laut Hersteller Unzerstörbaren Briefkasten? Solche und ähnlich irrsinnige Erklärungen und Gedanken über und um den zerstörten Briefkasten schwirren wie Libellen zur Paarungszeit durch Lukas Kopf während er den Schlüssel für den Briefkasten an seinem Schlüsselbund sucht. Seine Hände zittern leicht und er wird zusehend nervöser während er einen Schlüssel nach dem anderen begutachtet. Er fühlt sich zu Recht beobachtet. Mehrmals sieht er sich während seiner Suche um, seine Augen tasten den Wald ab, aber entdecken nichts. Der Beobachter ist zu gut versteckt, verborgen hinter mehreren Büschen harrt er bereits seit Stunden aus und wartet darauf, dass sein neues „Geschenk“ gefunden wird. Der richtige Schlüssel fährt ins Schloss und Luka dreht ihn. (Bitte lass tote Eichhörnchen in ihm sein, bitte lass tote Eichhörnchen in ihm sein) mehrere Kräftige Rücke sind nötig um die verbeulte kleine Tür zu öffnen, doch als er schließlich aufgeht, verändert sich die Gesichtsfarbe von Luka schlagartig von etwas bleich zu totenbleich. Zitternd greift er hinein und zieht seinen alten Schlüsselbund heraus. „Das gibt’s nicht.“ Haucht er leise. Krampfhaft versucht er es den Eichhörnchen, Bären oder sonstigen ihm bekannten Waldbewohnern zuzuschieben, doch kein ihm bekanntes Tier würde so etwas tun. Nicht einmal in seiner Fantasie. Und der einzige Jugendliche im Umkreis von 20 Kilometern, Friedrich Stolz, ist erst Sieben. Also, nicht wirklich zu so einer Tat fähig. „Das gibt’s nicht.“ Aus reinem Instinkt schaltet Lukas überlasteter Kopf um. Aus Unverständnis wird Aggression, aus Angst wird Trotz. Er umfasst den Schlüssel mit der Hand, drückt ihn kurz fest als wolle er ihn für sein Zurückkommen strafen und wirft ihn schließlich in hohem Bogen in den Wald, sperrt den Briefkasten, nutzloser weise, wieder zu, steckt den Schlüssel ein, schultert den Regenschirm, stürmt in den Garten, knallt das Gatter hinter sich zu, stürmt weiter zum Haus, nur um auf halbem Wege umzudrehen und zurück zum Gatter zu laufen welches er ebenfalls zusperrt. (Zweimal wohlgemerkt.) Danach geht’s endgültig ab ins Haus. Auch die Eichentüre wird zugesperrt. Erschöpft wie nach einem Marathon lässt er sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen, atmet mehrmals tief durch und wird sich darüber bewusst wie lächerlich er sich gerade benommen hat. Irgendwelche Jugendlichen haben sich sicher vor Lachen am Waldboden gekugelt als sie ihm zugesehen haben. Doch er könnte damit nicht falscher liegen. Das Ding im Wald lacht nicht.
Nächtlicher Besuch
„Guten Tag bei Waffen Mählich, mein Name ist Isolde Fink, was kann ich für sie tun?“
„Ja guten Tag…“ murmelt die Stimme am anderen Ende der Leitung.
Die Stimme ist leise, fast nur ein Flüstern „Ich… ähm… wollte fragen ob sie auch Selbstschussanlagen verkaufen?“
Isolde legt die Nagelfeile zur Seite und reibt sich das Nasenbein. Gelegentlich kam es vor das irgendwelche Irren anrufen und Atombomben, Raketenwerfer oder sonstiges verlangten. Ihrer Meinung nach alles Spinner
„Nein Sir, tut mir leid, Selbstschussanlagen sind in unserem Land nicht erlaubt.“ Kurze Stille
„Wie… wie sieht’s mit Tellerminen aus?“
„Die sind ebenfalls für Zivilpersonen Verboten.“
„Na gut… dann…“ wieder kurzes Schweigen „eine große Jagdwaffe bitte.“
„Haben sie überhaupt einen gültigen Waffenschein?“
„Ähm… Nein.“
„Tut mir leid, dann kann ich ihnen auch nicht Weiterhelfen.“ Antwortet Isolde, und greift zu ihrer Nagelfeile.
„Aber hören sie, ich…“ und drückt mit ihr den Gesprächsunterbrechungsknopf.
„Hallo?“ Luka presst den Hörer noch ein wenig mehr an sein Ohr, ehe er den Hörer wütend auf die Gabel zurückknallt. „Verdammte Schlampe“ flucht er.
„Na, Na…“ sagt Frau Hirsch, die Inhabern des kleinen Krämerladens tadelnd. Die alte, gutmütige Frau schüttelt den Zeigefinger. Sie ist schon beinnahe Taub aber das „Verdammte Schlampe“ scheint sie gehört zu haben.
„Entschuldigung Frau Hirsch.“ Sagt Luka, legt ein paar Geldscheine auf den Tisch. „Eine Packung Zigaretten bitte.“
„Seit wann rauchen sie den wieder? Ich dachte sie hätten aufgehört als sie von der Stadt hier her gezogen sind.“
„Tja… ich ähm… der Arbeitsstress sie verstehen…“ „Ja das kenn ich. Welche wollen sie den?“
„Die stärksten die sie haben oh, und das Feuerzeug hier nehme ich auch noch.“
„Sonst noch etwas?“
„Ja... ja.. Den Spaten hier bitte.“
„Das wäre alles?“
„Ich hoffe.“
„Wie meinen?“
„Ach nichts.“ Und so wechseln ein Spaten, eine Packung Zigaretten, ein Feuerzeug und etwas Geld den Besitzer, ehe Luka den Laden wieder verlässt. Draußen angekommen steckt er sich eine Zigarette an, nimmt einen Tiefen Zug, und hustet. Danach schultert er den Spaten und marschiert los. Nicht in die Richtung seines Hauses, sondern in die entgegengesetzte. Er lässt die Hand in seine Hosentasche, in welcher sein alter Schlüsselbund liegt, gleiten. Es beunruhigte in sehr, dass er ihn wieder hatte. Aber die Tatsache, dass er heute Morgen als er aufgewacht ist auf dem Sims des Schlafzimmerfensters gelegen hat beunruhigte ihn weit mehr. Es trieb ihn fast in den Wahnsinn. Irgendetwas hatte über Nacht den halben Zaun eingerissen, sich am Stacheldraht aufgekratzt (Luka fand Fell und Blut auf ihm) und hatte ihn schließlich dort hingelegt. Irgendetwas hatte ihm heute Nacht beim Schlafen zugesehen. Und das machte das Ganze zu etwas anderem als einem Spiel das er und noch jemand trieb. Ob es nun ein Tier war oder ein stark behaarter Mensch, dies hier war eine Kriegsansage. Schluss mit lustig. Gut zwei Stunden marschiert Luka die Straße entlang, ehe er unter einer alten Tanne stehen bleibt. Er atmet kurz durch und sticht dann die Schaufel in den Boden. Wenn dieses Etwas unbedingt Schlüssel suchen wollte dann sollte es mal versuchen ihn hier zu finden. Wie ein irrer beginnt Luka zu graben. Es ist bereits Nachmittag als er mit der Größe des Loches zufrieden ist, den Schlüsselbund hineinwirft, das Loch wieder zuschaufelt, darauf herumtritt, die Grabstelle verwischt und sich auf den Weg nach Hause macht. Ein siegessicheres Lächeln strahlt in seinem Gesicht als er mit Einbruch der Dunkelheit zu Hause ankommt und die Tür hinter sich schließt. Er lehnt die Schaufel neben sein Bett, dreht das Licht ab und kriecht unter seine Bettdecke. Mit dem Eintreten der Dunkelheit kommt auch die Angst. Fesselnd legt es sich um seine Brust, zwingt ihn dazu ständig zum Fenster zu starren. Es dauert lange, bis er in einen unruhigen Schlaf fällt, während einige Kilometer weiter weg etwas zu graben beginnt. Es gräbt wütend. Es ist sauer. Der Mensch wusste die Geschenke nicht zu würdigen.
Kurz nach Mitternacht schlägt Luka die Augen auf. Sein Puls rast. Er lauscht. Etwas hat ihn geweckt. Da.. Da war es wieder. Ein sonderbares, leises aber beständiges, penetrantes Kratzen an der Tür. Es kommt vom Vorraum. Die Eingangstür. Er hört wie die Klinke hinabgedrückt wird, an ihrem tiefsten Punkt ankommt und dem der sie betätigt die Erkenntnis das die Tür verschossen ist kommt. Klappernd fährt die Klinke wieder nach oben.
Das kann kein Eichhörnchen sein, kein Bär, kein Elch, nicht einmal ein gottverdammter Schimpanse macht so etwas. Mit einem gewaltigen Krachen schlägt etwas Schweres gegen die Eingangstür, welche mit einem empörten Knarzen protestiert. „Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße, scheiße.“ flucht Luka und springt aus dem Bett. Er verzichtet auf den Luxus sich anzuziehen oder sonstiges, schnappt sich seinen Spaten und stürmt in die Küche. Als er dabei an der Eingangstür vorbeikommt kracht das zweite Mal etwas gegen diese, was verursacht das Luka das Herz bis in die Knie rutscht. Er schliddert um die Ecke und knallt die Türe hinter sich zu, bis er zu dem großen Panoramafenster sieht und sich fragt warum zum Teufel er eigentlich in die Küche gerannt ist. Dann splittert Glas. Nicht das Glas der Küche, sondern das Glas des Schlafzimmerfensters. Klirrend kracht es auf den Boden. „Verstecken, verstecken, verstecken…“ murmelt er manisch zu sich selbst, und springt intuitiv unter den Küchentisch. „Das is gut, das is gut, das is gut, hier findet er mich nie… nie! Hier… verdammt…“ und krabbelt wieder darunter hervor. Es dauert nicht lange bis auch die Klinke der Küchentür sich langsam nach unten bewegt. Ein leises, jämmerliches glubsen kommt über seine Lippen und die spröde Tür der Vorratskammer erstrahlt plötzlich in einem völlig neuen Licht. Als wäre es das Tor nach Neu Mekka öffnet er sie, betätigt den Lichtschalter neben der Tür, huscht ins Innere, schließt die Tür und klemmt den Spaten unter die Klinke. Genau in diesem Moment schwingt die Küchentür geräuschvoll auf. Noch immer panisch sieht Luka sich im Vorratsraum um. „Tür verrammeln, Tür verrammeln“ murmelt er zu sich selbst während etwas an der Vorratsraumtür kratzt. Wenn Menschen einen ordentlichen Adrenalinschub bekommen sind sie zu erstaunlichen Dingen fähig. Mütter heben Autos hoch um ihr Kind darunter hervorzuholen, angeschossene Soldaten rennen noch immer um ihr Leben, obwohl sie schon lange tot sind und es nur noch nicht gemerkt haben, und Luka schiebt einen schweren Schrank mit beachtlicher Geschwindigkeit vor die Türe. Er keucht und ächzt dabei, und als das Licht in der kleinen fensterlosen Kammer ausgeht keucht und ächzt er noch mehr. Der Schrank stand schon an dieser Stelle als Luka einzog. Er war ihm immer zu schwer um ihn zu entsorgen und er dankt in diesem Moment jedem Gott der ihm einfällt für seine Faulheit. Als der Schrank an seiner neuen Stelle angekommen ist stemmt sich Luka mit aller Kraft noch dagegen, als ein Donnern durch den Schrank geht als der nächtliche Besucher gegen die Tür kracht. Das dünne Holz der Tür splittert, doch der Schrank und die Schaufel halten. „Ha!“ Brüllt Luka „das ist echte solide deutsche Bunkereiche. Daaaa kommst du nicht durch!“ ein zweites Krachen lässt Luka daran zweifeln, Angstschweiß rinnt über seine Stirn, und wieder wirft sich etwas gegen die Schrank-Tür-Schaufel-Kombination. Luka mobilisiert all seine Kräfte und drückt sich noch stärker gegen den Schrank, doch nichts geschieht. Stille tritt ein. „Na? Gibst wohl schon auf was?“ Sagt Luka. Er versucht, dass seine Stimme laut und fest klingt, versagt aber kläglich. Er klingt wie ein Neun Jähriges kleines Mädchen das den Teufel höchstpersönlich darum bittet nicht mitsamt ihrem Lieblingskuscheltier gefressen zu werden. Er bekommt er keine Antwort. Was immer vor der Tür auch war, es schien beschlossen zu haben sich derweil um andere Dinge zu kümmern. Krachend fliegen Töpfe aus Regalen, Glas splittert, Schubladen werden aufgerissen und fallen tosend zu Boden. Man kann förmlich hören wie sich die Geräusche durch das ganze Haus ziehen, und schließlich verstummen.
Es wäre gelogen hier zu behaupten das Luka im Moment auch nur kurz daran denkt den Schrank zur Seite zu schieben und nachzusehen. Dafür war morgen schließlich auch noch genug Zeit. Oder nächste Woche. Vielleicht liegt es ja im Bett oder wartet inzwischen wieder vor der Tür? So beschließt er erst einmal für Licht zu sorgen. Die Dunkelheit in der Kammer ist absolut. Seine Hände wandern tastend über den Schrank, und berühren etwas Haariges. Luka brüllt vor Schrecken auf, und verkriecht sich weiter nach hinten, zitternd kauert er sich zusammen, versucht sich so klein wie möglich zu machen. Minuten vergehen, und werden schließlich zu Stunden in denen nichts passiert. Das einzige Geräusch ist der hechelnde Atem von Luka der mit aller Kraft versucht sich zur Vernunft zu rufen. Nichts kann hier herinnen sein, nichts ist hier herinnen, nichts. Jeder der sich über die Zeitspanne wundert, ist noch nie in der Dunkelheit gesessen und hatte derart viel Angst. Schließlich haben sich Puls und Nerven wieder einigermaßen beruhigt. Langsam steht er auf und tastet weiter. Seine Hände ergreifen diesmal nichts Fellbewachsenes, sondern eine kleine Taschenlampe. Er knipst sie an und sieht sich um. Der kleine Kreis aus Licht wandert zuerst zu dem Fell Ding welches sich als alter langhaariger Staubwedel entpuppt. Mehrere Verwünschungen und Flüche gegen sich selbst kommen über Lukas Lippen, ehe der Strahl weiterwandert. Nichts das er nicht schon hundertmal gesehen hat, bis auf die Kleinigkeit die zum Vorschein gekommen ist, als er den alten Schrank verschoben hat. In schwarzen, großen Buchstaben steht dort folgendes geschrieben:
Nimm was er dir gibt
Und lass nichts zurück
Sonst bringt er dirs näher
Stück für Stück
Und ist das Tier erst bei dir
Hörst du’n klopfen nicht fern von hier
An deiner Tür ganz nah
Und du weist, dein menschlich Ende ist jetzt da.
Die Schrift ist krakelig, durch die vielen Jahre die sie hier wohl schon steht, fast nicht mehr zu lesen. Luka schluckt schwer, tappst näher und fährt mit der Hand über die Schrift. Erstaunt stellt er fest, dass sie eingebrannt ist. Wie es der Zufall so will erklingt just in diesem Moment ein Klopfen an der Haustüre was Luka einen weiteren gehörigen Schreck und wohl ein weiteres Jahr seines Lebens kostet. „Jemand zu Hause?“ Fragt eine männlich klingende Stimme. Vor lauter Schreck fällt die kleine Taschenlampe aus Lukas Händen und knallt auf den Boden. Das Licht erlischt.