Warum sind die Straßen noch so voll? Wer jetzt noch ohne triftigen Grund unter Menschen geht, schadet allen. Besonders die Privilegierten sollten endlich verzichten.
Ein Kommentar von Lenz Jacobsen
In Oberwiesenthal waren sie am Samstag Nacktrodeln, denn "Corona gibt's bei uns nur zum Trinken", ha ha. Auf dem Münchner Viktualienmarkt drängelten sich zur gleichen Zeit die Leute mit Spritz und Weißbier. In Berlin scharten sich im Park vor meiner Tür noch am Montagabend die Teenagergrüppchen um die Bluetooth-Boxen: Corona-Party. Ein italienischer Bekannter, dessen Freunde daheim längst in Isolation sitzen, schüttelt schon seit Tagen den Kopf. Er findet, wir haben den Schuss nicht gehört. Er hält es für absurd, dass viele Deutsche offenbar an eine Art bequemen dritten Weg im Umgang mit Corona glauben: zwischen den harten Maßnahmen in Italien und der riskanten Strategie in Großbritannien. Und ich glaube, er hat recht.
Wer jetzt noch ohne triftigen Grund unter Menschen ist, schadet allen. Und von diesen Leuten gibt es noch immer viel zu viele. Der Soziologe Armin Nassehi sagte über den vollen Viktualienmarkt: "Am Ende feiert hier die moderne Version des autoritären Charakters: Das Richtige wird nur getan, wenn es ausdrücklich befohlen wird."
Ja, jede Einschränkung tut weh. Kulturpessimisten sehen die Krise schon als Chance zur Besinnung, zur Besinnung auf das Wesentliche. Was für ein Hohn. Besonders für jene, die nicht einfach zu Hause arbeiten können, die allein sind oder krank, die jetzt kein Geld mehr verdienen, die pleitegehen oder die nicht wissen, wo sie Essen herkriegen sollen, weil die Tafeln schließen.
Was sich gestern noch okay anfühlte
Die Probleme der Privilegierten sind kleiner, harmloser. Aber auch die Privilegierten trifft es. Haben Sie schon mal versucht, einer Dreijährigen zu erklären, dass sie nicht in die Kita darf und auf den Spielplatz auch nicht? "Aber da waren wir doch gestern noch", sagt sie und ich muss antworten: "Ja, aber vielleicht war das auch gestern schon falsch."
Überhaupt, wie schnell alles geht und wie langsam zugleich: Es reicht offenbar nicht, abstrakt zu wissen, was in Italien passiert. Dass wir nur zwischen ein paar Tagen und höchstens wenigen Wochen Vorsprung haben und dass auch wir unser Verhalten ändern müssen, je früher, desto besser. Nein, wir müssen die Erfahrung offenbar selbst machen, bevor wir begreifen. Ziemlich gefährlich bei einem Virus, das erst Tage nach der Ansteckung Symptome verursacht.
Braucht es also Verbote, Armee auf den Straßen, all das? Der französische Präsident Emmanuel Macron spricht schon vom "Krieg gegen das Virus". Einerseits ist das eine Verhöhnung all derer, denen beispielsweise in Syrien jeden Tag Bomben auf den Kopf fallen, die verhungern und gefoltert werden. Andererseits versteht man die sprachliche Eskalation: Es ist der Versuch, eine Gesellschaft wachzurütteln, die solche Schocks nicht mehr gewohnt ist. Die sich (zum Glück!) so in ihrem Alltag einrichten konnte, dass sie aus den Komfortroutinen nun schwer wieder herauskommt. Vielleicht kommt im krisenverschonten Deutschland generell eine eingebildete Unverletzlichkeit hinzu, eine Art Wohlstandstrotz. Zumindest bei den Privilegierten.
Komischer Bürgersinn
Wie technisch klingt im Vergleich zu Macron Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Maßnahmenlisten vorträgt, die pure Nüchternheit. Aber wer Politikerpathos braucht, um zu begreifen, worum es geht, der kann ja auf den Bundespräsidenten hören. Oder, noch besser, er fragt sich, wie es eigentlich um den eigenen Bürgersinn bestellt ist, wenn man erst auf Befehl das Vernünftige tut.
Mit jedem Tag verschieben sich die Maßstäbe dafür, was sich verzichtbar anfühlt. Vielleicht hätte ich diesen Text gestern noch als alarmistisch empfunden, und vielleicht finde ich ihn morgen schon zu zögerlich.
Das hundertprozentig richtige, wissenschaftlich beglaubigte Maß an Einschränkung gibt es nicht, weder persönlich noch politisch. Es gibt nur jeden Tag neue Anpassungen. Aber vielleicht können wir uns ja darauf einigen, dass Nacktrodeln und Partys nicht mehr zum Notwendigen gehören, Spielplatzaufläufe auch nicht. Dass wir jetzt generell zu Hause bleiben und möglichst allen Menschen, mit denen wir nicht zusammenwohnen, aus dem Weg gehen. Dass wir versuchen, jenen zu helfen, denen das aus guten Gründen besonders schwerfällt.
Denn neben den medizinischen Risikogruppen müssen wir uns auch um die sozialen Risikogruppen kümmern. Alleinerziehende, Arme, Obdachlose,
Alte, Pflegebedürftige, Frauen, denen jetzt häusliche Gewalt droht. Weil für sie jede Einschränkung so viel schmerzhafter ist als für die
Privilegierten, sollten diese sich erst recht einschränken. Wer mehrhat, sollte auch auf mehr verzichten.
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Meine Meinung: Treffend formuliert, toller Text